Bellavia und sein Weihnachtsgeheimnis
Freude und Hoffnung
Ein Buch, in dem sich die Heilige (Groß-)Familie zwanglos und höchst fidel zwischen Romulus und Remus und anderen mythologischen Gestalten herumtummelt – das lässt das weihnachtlich gestimmte, bibliothekarische Herz höherschlagen!
Da hält Maria das zappelnde Jesuskind im Arm und zeigt heiter auf Josef, der mit seiner Lilie spielerisch über dem Köpfchen des Babys herumwedelt. Großmutter Annas Blick ruht still auf dem jungen Familienglück. Auf einem anderen Bild ist sie es, die wohlgelaunt ihr Enkelkind neckt, das hinter Marias Schleier mit ihr „Verstecken“ spielt, was Großvater Joachim sichtlich belustigt. Ein rundes Medaillon wiederum zeigt den liebevoll lächelnden Josef, Nase an Nase im innigen Plausch mit dem Jesuskind, das gerade drauf und dran ist, nach dem nährväterlichen Bart zu haschen, während es von Maria sanft gehalten wird. Neben den üblichen Klassikern wie „Anbetung der Hirten im Stall“ oder „Flucht nach Ägypten“ gibt es hier so einige Überraschungen, die das Repertoire der gängigen Weihnachtsmotive wohltuend humorvoll und warmherzig bereichern.
Zur Entdeckerfreude beim Blättern gesellt sich indes rasch Verwunderung. Das liegt schon einmal an der völligen Abwesenheit von Text: kein Vorwort des Herausgebers, keine Erklärungen zu den Bildtafeln, keine Angaben zu Druckort oder -jahr. Das Staunen wird größer angesichts der rätselhaften Eintragungen innen am Buchdeckel (ein eingeklebter englischer Name und ein seltsam morbider Spruch). Und dann besteht der Einband auch noch aus einer Kombination von mittelalterlichen Pergamentfragmenten und geblümtem Buntpapier, das nicht einmal halb so alt sein kann. Das alles macht es nicht gerade einfach, das Werk in die Melker Bibliotheksgeschichte einzubetten. Dazu kommt ein Titelblatt, das irreführender kaum sein könnte:
Pensieri diversi lineati et intagliati d’Annibale Caracci
„Verschiedene Gedanken/Themen, gezeichnet und gestochen von Annibale Carracci“, so die Übersetzung. Der Titel wird von einem geflügelten Mann mit beeindruckendem Wallebart (der „Zeit“) einer Dame mit Pinseln in der Hand (der „Malerei“) auf eine Leinwand diktiert. Eine dichte, atmosphärische Darstellung, die von Cornelis Bloemaert II. stammt. Zumindest steht es so unter dem Stich. Nur stimmt das nicht. Und die Bilder im Buch stammen auch keineswegs von Carracci. Ein Fall von Kunstbetrug? Und das ausgerechnet zu Weihnachten?
Froh, wem eine ganze Klosterbibliothek samt umfassender Kunstabteilung zur Verfügung steht! So führen die verschiedenen Namen und Angaben auf eine Reise durch die Fachliteratur und zur Lösung des Rätsels: Korrekt ist nämlich nur eine einzige Information auf dem Titelblatt, und zwar dass das Buch bei Venanzio Monaldini käuflich erworben werden konnte. So steht es ganz prominent gleich unter dem Titel. Tatsächlich sollte sich die ungeniert eingeschobene Produktwerbung als wichtigste heiße Spur in diesem kunsthistorischen Cold Case erweisen. Signore Monaldini war nämlich ein römischer Buchhändler Ende des 18. Jahrhunderts und die Stiche im Buch stammen in Wahrheit vom bereits damals eher unbekannten Maler und Kupferstecher Marcantonio Bellavia († Ende 17. Jahrhundert). Dieser verstand es offenbar meisterhaft, Ideen und Kompositionen berühmter Künstler kreativ zu transformieren. Er kopierte sie jedoch nicht einfach, sondern spielte mit Blicken und Gesten, ließ die Figuren auf seine Art lebendig werden und schenkte den Szenen eine ganz persönliche Note. Auf diese Weise wirken damals wie heute selbst vertraute Weihnachtsmotive verblüffend frisch und erzählerisch.
Ob Bellavia Vorlagen Carraccis reproduzierte oder ob er sich nur von seinem Stil inspirieren ließ, bleibt wohl sein Geheimnis. Darüber sind sich selbst Kunstexperten nicht einig. Vor allem aber stand man schon im 18. Jahrhundert vor demselben Problem. Genau das machten sich Verleger und Händler zunutze: Die Blätter wurden kurzerhand als Originale von Annibale Carracci (1560-1609) und Cornelis Bloemart (1603-1692) ausgegeben. Für einen namenlosen B-Klasse-Kupferstecher hätten Kunden klarerweise weniger hingeblättert als für begehrte Sammlerstücke. Geschönte Zuschreibungen und Etikettenschwindel – schon im 18. Jahrhundert verstand man es, aus Weihnachten Kapital zu schlagen.
Den Fragen rund um Urheberschaft und historischen Vermarktungsstrategien nachzugehen, ist natürlich spannend. Genauso wichtig ist es, der Buchbiografie des Melker Exemplars auf die Spur zu kommen. Nur so lässt sich der Wert des Werks für die Bibliothek besser verstehen. Und doch erzählt das Buch – ganz ohne Worte – eine andere Geschichte, die von all dem unberührt bleibt: Weihnachten ist pures Glück im Zeichen eines kleinen Kindes, das die himmlische Botschaft von Freude und Hoffnung lebendig werden lässt.
Der Titel „Pensieri diversi“ – „Verschiedene Gedanken“ – kann so auch als Einladung verstanden werden, sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln dem diesjährigen Weihnachtsbuch der Stiftsbibliothek zu nähern. Dass die Bilder bis heute leuchten und berühren, ist dabei vielleicht ihr größtes Geheimnis.
Das Bibliotheksteam wünscht ein frohes Fest!
P.S. Dieses großartige Werk, das unter Sign. 29.431 im Regal zu finden ist, hat übrigens bereits Buchpaten gefunden. Es war Liebe auf den ersten Blick!
von Bernadette Kalteis




